Ich steige früh auf die Waage.
48.5.
Geh runter.
Wieder hoch.
48.5.
Geh wieder runter.
Erneut hoch.
48.5.
Wie hast du das angestellt?
Wie?
Heute war das nun schon dritte Treffen mit Frau H. Sie bemüht sich so sehr. Noch nie hat sich jemand um mich so sehr bemüht.
Heute war so wundervolles Wetter, deshalb machte sie den Vorschlag, dass wir anstatt in der Schule zu sitzen zum McDonalds fahren und dort reden könnten.
McDonalds?
"Ich habe leider kein Geld mit" "Und ich lade dich auch ein und du brauchst gar nicht erst so bescheiden zu sein"
Am Ende war es ein Mozzarella Salat, vier von diesen Käsesticks mit Tomaten Dip, die sie mir dazu noch aufdrückte und eine Apfelschorle. Aß ich... innerhalb von 2 Stunden.
2 Stunden in denen sie mir Vorschläge machte.
"Wärst du abgeneigt von zuhause auszuziehen? Ich denke es würde dir gut tun, wenn du unter Gleichaltrigen wärst, in einer WG. Im Grunde lebst du ja schon bereits auf eigenen Füßen" - über meine schulischen Leistungen und dem Arbeiten sprachen
"Es ist nicht deine Aufgabe, dich zu versorgen. Ich weiß gar nicht wie du das alles schaffst mit so wenig~" und wir meine gesamte familiäre Situation noch einmal aufwühlten. Ich erzählte ihr von meinem Schwestern. Der einen, die bereits ausgezogen ist, mit Kind und Freund ne Stunde von hier wohnt und nicht zurecht kommt. Der anderen, die im Behindertenheim ist. Der einen, die die Schule abbrach und nun mit ihrem Frühchen noch hier hockt und ihrer Zwillingsschwester, die sich die Ausbildung verbockte. Und der kleinen, die alles hat. Sie meinte, ich sei das typische Sandwich-Kind. Ich erzählte ihr von meinem Vater, meiner Mutter, deren Trennung. Und dem Neuem.
"Wenn man das so hört, dann fragt man sich wirklich wie du dort landen konntest. Du scheinst wirklich die einzige zu sein, die sich bemüht und einen völlig anderen Weg geht." -"Ich möchte später mal nicht mehr so leben müssen"
Und dann?
Dann traf es mich wie einen Schlag und ich war völlig überrümpelt.
Sie hat sie viel gestochert, weil ich so dünn sei. Ich habe gesagt, dass wir nicht zusammen essen und ich mich auch nicht einfach etwas nehmen darf, dass ich kein Frühstück in der Schule habe, dass ich nicht in die Küche geh' wenn jemand da ist, aus Angst vor dummen Kommentaren wie "Die Nudeln sind abgezählt" oder "Iss nicht so viel, sonst wirst du noch fetter" Das war's.
Sie sah mir besorgt in die Augen und sagte:
"Wenn ich das so höre und deine dünnen Arme sehe, so scheint es mir als hättest du Bulimie" In dem Moment rannten mir zu viele Gedanken durch den Kopf, anstatt dass ich sagen könnte, was genau ich gedacht habe. Sieht man mir das an? Kann man jemanden so etwas ansehen? War es geraten? Weil ich so langsam gegessen habe? Ich verstand das nicht.
Wie?
Mir war es so unglaublich unangenehm, habe mich geschämt. Mir war es so unglaublich peinlich, wenn dass das richtige Wort dafür ist. Ich wusste nicht wie ich reagieren sollte.
Ich fühl mich schlecht.
Ich war nicht ganz ehrlich zu ihr. Das tut mir so schrecklich leid. Es macht mich ziemlich fertig. Ich lüge eigentlich nicht. Eine Lüge frisst mich auf. Lieber sag ich... nichts. Sie fragte mich, ob ich mich öfters übergeben würde. Meine Gedanken rannten, konnte sie nicht ordnen, eine zu lange Pause entstand. Ich sagte nur, dass das schon mal
passiert sei. Die Wahrheit ist, dass ich am Tag eine Mahlzeit habe, die in 70% der Fällen in einer FA übergeht und unweigerlich über der Schüssel endet. Wenn ich esse, dann kommt es mir mittlerweile schon von allein wieder hoch.
Aber oft mach ich nichts dagegen. Und dann fühle ich mich so widerlich, so ekelhaft. Ich bin ekelhaft. Das konnte ich ihr nicht sagen.
Noch so vieles war gesagt, dass ich mir alles noch durch den Kopf gehen lassen muss. Das Gespräch hat mich ziemlich aufgewühlt.
Am Ende gab sie mir noch einen Brief für meine Mutter. Eine Einladung zu einem Gespräch am Montag.
"Wir müssen handeln. Bitte versteh' dir bleibt sonst nicht mehr viel Zeit"
Sie möchte meine Mutter sagen, wie sehr mich die Situation belastet, meine meine Mutter mir nicht zuhört und dass es nicht sein kann, dass sie ihren Pflichten als Sorgeberechtigte nicht nachgeht...
Ich habe ihr den Brief noch nicht gegeben. Er liegt hier direkt neben mir im weiß gebleichten Kuvert.
Ich weiß nicht genau wie meine Mutter darauf reagieren wird.
Ich werde ihn ihr geben.
Gleich morgen.
Was hab ich da los getreten?
Ich habe ein Tabu gebrochen.